Das oberbayerische Kirchanschöring liegt im Südosten Bayerns und ist eine sehr innovative Kommune. In vielen regionalen und überregionalen Projekten und Initiativen aktiv wurde Kirchanschöring im Jahr 2018 auch als erste Kommune Deutschlands gemeinwohlzertifiziert.
Im September 2020 ging die Gemeinde, allen voran der Erste Bürgermeister Hans-Jörg Birner, einmal mehr neue Wege und beauftragte SCHNETZER|RUTHMANN mit der Gestaltung und Moderation des ersten mit Dynamic Facilitation moderierten Bürger*innenrats-Prozesses zum spannenden Thema „Ausbau der Kinderbetreuung“. Ein Thema, das aktuell bei vielen Kommunen auf der Agenda steht.
Teilnahme per Zufallsauswahl
Mit 15, zufällig aus dem Melderegister ausgewählten Personen wurde im Bürger*innenrat zunächst an zwei Tagen über die Frage beraten, wie die zukünftige Kinderbetreuung aussehen soll. Ziel des Bürger*innenrats war es, mit direkter Demokratie zukunftsorientierte Ideen für die Ausgestaltung und Menschen zu gewinnen, die sich anschließend für die Umsetzung einsetzen, sich miteinander vernetzen und es als „ihr gemeinsames Projekt“ mit Leben füllen.
Kinderbetreuung als strategische Aufgabe
Hans-Jörg Birner sah dieses Projekt als strategische Aufgabe seiner Gemeinde an. „Wir benötigen für die Kinderbetreuung in Kirchanschöring einen Ausbau der Kapazitäten. Bevor wir mit dem Projekt starten, wollten wir die Bürger*innen aktiv beteiligen“, erklärte er das Vorhaben, „denn die Strategie der Kinderbetreuung wird sich langfristig auf das Leben in unserer Gemeinde auswirken. Wir wollten von den Menschen, die hier leben, wissen, was aus ihrer Erfahrung heraus für einen guten Start ins Leben notwendig ist und was sie sich für unsere Kleinsten wünschen.“
Ideen & Lösungen mit Dynamic Facilitation
In der mit Dynamic Facilitation von Tanja Schnetzer und Umsetzungspartnerin Cordula Riener-Tiefenthaler moderierten Veranstaltung wurden dann Ideen und Lösungen für die Zukunft gesammelt. Dabei hatten die Teilnehmer*innen jederzeit die Gelegenheit zu sagen, welche Themen ihnen ein besonderes Anliegen sind, was Ihnen gefällt, wo sie Verbesserungsbedarf sehen und in welche Richtung sich die Kinderbetreuung der Zukunft entwickeln sollte. Spezielle Vorkenntnisse oder besonderes Fachwissen waren nicht erforderlich, vielmehr zählten die persönliche Sicht der Dinge sowie das freie Fließen der Gedanken, das Entwickeln von Ideen und auch kritische Anmerkungen, die in diesem Format willkommen sind.
Vision „Campus für Kinder“
Die Ergebnisse, allem voran die Vision des „Campus für Kinder“ mitten im Dorfzentrum, wurden am dritten Tag in einem Bürger*innenrats-Forum allen interessierten Gemeindemitgliedern und weiteren regionalen Akteur*innen vorgestellt, diskutiert und weiter verfeinert.
Tanja Schnetzer begleitete den gesamten Prozess als Projektleiterin. „Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wie sich die Menschen durch Dynamic Facilitation mit sich selbst, ihren Anliegen und Wünschen und dann mit der gesamten Gruppe verbinden“, beschreibt sie die Wirkung dieses Prozesses, „dadurch entsteht ein Miteinander und eine Intensität, die mit anderen Methoden nicht erreichbar sind.“
Das sagen die Teilnehmer*innen
Sylvia Köberle, Christina Schuhbäck und Helmut Schmid, die als Bürger*innen an dem gesamten Prozess von zweieinhalb Tagen in drei Wochen teilgenommen haben, zeigten sich sehr zufrieden mit dem Ergebnis und erlebten die Arbeit mit den anderen Bürger*innen als respektvoll, kreativ und wichtigen Bestandteil gelebter Demokratie.
„Ich wurde von der Gemeinde angeschrieben und habe mich sehr gefreut, auch ohne eigene Kinder am Bürger*innenrat zu diesem Thema teilnehmen zu dürfen“, sagte Christina Schuhbäck, „Ich fand gut, dass nicht nur Menschen mit Kindern da waren, sondern Menschen aller Altersstufen, mit verschiedenen Berufen und eigenen Erfahrungen und Hintergründen.“ Und sie fügte an: „Durch die Methode war es ein respektvoller Umgang unter uns allen. Man hat sich immer wohlgefühlt und so gemerkt, dass die eigene Meinung trägt. Das hat den ganzen Denkprozess vereinfacht, weil man nicht die Blockade gehabt hat, wenn ich jetzt was sage, dann denken alle, das passt nicht, also sage ich es lieber nicht. Doch jeder hat immer gesagt, was er denkt, was er fühlt und alle anderen haben es akzeptiert und zugehört. Und das hat diese extrem positive Dynamik entwickelt.“
Helmut Schmid, Vater von Kindern im Schulalter, war ebenfalls überzeugt vom ersten Kirchanschöringer Bürger*innenrat. „Man geht mit einer fertigen Meinung in den Bürger*innenrat und denkt, genau das will ich sagen“, beschrieb er schmunzelnd sein Erleben, „Dann sagt ein anderer was. Dabei vergisst man die eigenen Gedanken wieder und denkt auf einmal etwas ganz Neues. Dann kommen weitere Ideen und Impulse, das ist Teil der Methode. Und so habe ich ein paar Mal meine Sicht komplett geändert.“
Sylvia Köberle, Mutter mittlerweile erwachsener Kinder, ergänzte: „Was ich noch ganz wichtig an der Methode finde, ist, dass die Leute haben ausreden können. Das war am Anfang sehr schwer. Man brennt ja, man möchte was sagen. Wenn andere viele Ideen haben, muss man so lang warten. (lacht) Das war am zweiten Tag schon einfacher, das war ein Lernprozess. Und es ist ja auch wichtig, dass jeder etwas sagen darf. Auch wenn einer eine andere Meinung hat, dann darf der das sagen. Das war ganz wichtig.“
Kreativität, Lösungskompetenz & Miteinander als Folge von Dynamic Facilitation
Bürgermeister Hans-Jörg Birner hält dieses Vorgehen für wegweisend. „Um möglichst gute Entscheidungen zu treffen, genügt es unserer Meinung nach nicht mehr, nur von „Experten*innen“ Vorschläge erarbeiten zu lassen“, begründete er seine Wahl, „wir wünschen uns, dass die Menschen, die in Kirchanschöring leben, ihre Meinung in diesen Prozess einbringen und das Projekt dadurch zum Leben erwecken.“
Durch die Methode entstand ein Miteinander, das die Kreativität und Lösungskompetenz der Bürger*innen einholte. „Wir als Moderatorinnen haben den Raum geöffnet, damit Menschen wieder denken dürfen und die Schranken in ihren Köpfen lösen“, erklärt Tanja Schnetzer das Vorgehen, „wir sorgen in solchen Formaten dafür, dass der Raum offen bleibt, dass alles gesagt und gedacht werden darf. Es war ein unglaublich kreatives Miteinander in Kirchanschöring, die Ideen sind gesprudelt. Man musste niemanden fordern, sondern es war eher die Frage „wann bin ich endlich dran“, es war ein energetisches Miteinander.“
Cordula Riener-Tiefenthaler ergänzt: „Wenn ein Raum geschützt ist, können Menschen große Ideen miteinander entwickeln. Man muss ihnen nur den Raum zur Verfügung stellen. Es war im Bürger*innenrats-Forum so spürbar, dass der Geist und die Verbindung, die in der gemeinsamen Arbeit zwischen den Bürger*innenräten entstanden ist, auch auf die Bürger*innen, die zum ersten Mal von den Ergebnissen gehört haben, übergesprungen ist.“
Freude auf die Umsetzung
Die Frage, ob sie auch bei anderen Themen wieder an einem Bürger*innenrat teilnehmen würden, beantworteten die drei Bürger*innenräte mit einem klaren „Ja, definitiv, weil das Format einfach super ist!“. Sie empfahlen es auch jedem anderen Bürger, denn ihrer Meinung nach ist das eine Möglichkeit zu gelebter Demokratie. „Wir hoffen, dass bei einem nächsten Mal noch viel mehr Menschen an einem Bürger*innenrats-Prozess und vor allem am dritten Tag teilnehmen werden, um sich mit ihren Ideen und ihrer Kreativität für Kirchanschöring einzubringen“, erklärten Sylvia Köberle, Christina Schuhbeck und Helmut Schmid einmütig.
Bürgermeister Hans-Jörg Birner zeigte sich sehr zufrieden. „Rund 100 Ideen und Anmerkungen wurden vom Bürger*innenrat formuliert und dann in einem erstaunlichen Prozess zusammengeführt. Dass dies überhaupt möglich war, lag sicher an den hervorragenden Moderatorinnen und dem Prozessablauf, dem dieser Bürger*innenrat folgte“, fasste er seine Erfahrungen zusammen, „Es sind sehr konkrete Empfehlungen zur Verbesserung von Verkehr und Infrastruktur sowie zur Gestaltung der Betreuungszeiten entstanden. Darüber hinaus wurden Ideen für zukünftige, pädagogische Konzepte und vor allem die Vision eines „Campus für Kinder“ mitten in unserem Dorf entwickelt. Ich halte viele Inhalte für umsetzbar und freue mich schon sehr auf die Umsetzung!“
So entstanden in kürzester Zeit Verbindungen und Netzwerke – und das Wichtigste am ganzen Bürger*innenrat: Er hat das Engagement der Menschen geweckt, sie aktiviert und motiviert, im Miteinander neue Wege zu beschreiten.
Transfer in die Gesellschaft
Die Ergebnisse des gesamten Prozesses inkl. der Vision des „Campus für Kinder“ wurden schließlich in einer von SCHNETZER|RUTHMANN moderierten Klausur mit dem Gemeinderat verabschiedet und dienen als Grundlage für die weiteren Beratungen und Entscheidungen. Es sind Arbeitskreise mit den Bürger*innenräten als Paten entstanden, um den Spirit auch in die Umsetzung zu begleiten. Damit ist der Bürger*innenrat mit seiner konsultativen Integration der Bürger*innenmeinung ein sehr wirksames Mittel der direkten Demokratie.
Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, laden Sie gern hier das Fallbeispiel herunter oder nehmen bitte Kontakt mit uns auf.